6 unphilosophischen Volke. Nur ausnahmsweise und vereinzelt ließen sich doch aus der cechischen Dichtkunst jene Motive heraushören, für welche die romantische Lebensauffassung den rechten Rahmen schafft; die späte messianistische Lyrik Nerudas oder die aufrüttelnde Tragik zweier selbstbiographischer Romane Zeyers, die weder ein Ceche noch ein Ausländer ohne tiefe menschliche und künstlerisc.he Erschütterung lesen kann, geben über die versäumte Möglichkeit einer wirklich groß angelegten Vaterlandspoesie in Böhmen zu denken. Ebenso versetzt uns in Verwunderung, wenn wir sehen, wie ein Volk, welches dermaßen aufdringlich und folgerichtig ein ganzes Jahrhundert lang die Erhaltung seiner sprachlichen und politischen Eigenart als eine Forderung des menschlichen und göttlichen Rechtes proklamiert hat, in seinem Schrifttum so herzlich wenig von eigenem Charakter- und Brauchwesen, von seiner Moraleigenart literarisch Gebrauch zu machen gewußt hat. Dies ist ihm zwar im vollen Maße in der Musik gelungen, aber man hat weder in der Dichtkunst noch in den bildenden Künsten in Böhmen die Mahnung Jan Nerudas zur Genüge beherzigt, "in die Weltliteratur würden nur die aufgenommen, die in ihrer persönlichen Tracht, sagen wir in der Nationaltracht, erscheinen" đ hauptsächlich im Roman und im Drama spiegelt sich das eigennationale Leben der Cechen im Vergleich zur Literatur der Russen oder derjenigen der Skandinavier recht farblos ab. Die Bilder vom bäuerlichen Landleben, das sich lange Zeit den Reiz der Ursprünglichkeit und den würzigen Heimatduft zu wahren gewußt hat, bilden ehrende Ausnahmen; es bleibt das Verdienst der deutschen Romantik, der russischen Slavjanophilie und der Volkskunde als Wissenschaft, daß sie der cechischen Schriftstellergemeinde nach und nach· die Augen für die Auffassung dieses charakteristischen Umkreises geöffnet und geschärft haben. Die hervorragendsten Darsteller der heimatischen Welt, der Romantiker Holecek und die Realistin Tereza Novakova, sind im gleichen Maße der europäischen Beachtung wert, wie sie ihren ebenbürtigen Zeitgenossen Selma Lagerlöf und W. Reymont zuteil geworden ist. In ihnen gipfelt der lange Entwicklungsgang, den der cechische Roman in der Schilderung von außerbäuerlichen Gesellschaftsschichten erst gegenwärtig durchzumachen anfängt. Die beiden sind ja von der farbigen und malerischen Oberfläche des Volkslebens, die doch den Gegenstand der Volkskunde bildet, bis zu seinen geistigen Strömungen hinabgestiegen, die nur ein Psychologe zu fassen und ausschließlich ein Dichter zu verkörpern versteht.