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modernsten Seelenergründer ihre Bewunderung nicht versagen
können. Bis an sein Ende wächst N eruda poetisch; noch in
seinem Nachlasse findet man eine Reihe von patriotischen
Gesangen, die, in einem kleinen Band vereinigt, sein Lebenswerk
würdig und erhaben abschließen.

Nerudas an erschütternden Erlebnissen allzu arme Biographie
ist als begleitender Text' seiner litterarischen Entwicklung
lehrreich und wichtig. Aus einer armen Proletarierfamilie stammend,
verbrachte Neruda seine Jugend auf der Kleinseite unterhalb des
Hradschins in Prag inmitten ihrer pittoresken Architektur und
ihres altmodischen Kleinbürgertums und wurde zugleich mit den
alten' Prager Traditionen und mit den sozialen Verhältnissen der
ärmlichen Volksschichte~ intim bekannt. Stets fühlte er mit dem
unterdrückten fünften Stande, stets hob er seine Angehörigkeit
zu demselben hervor, stets protestierte er gegen den harten,
gewaltsamen Egoismus der herrschenden, damals meistens deutschen
Klassen, die er als entschiedener Demokrat und zugleich als
begeisterter Ceche ehrlich und leidenschaftlich haßte. So bekamen
sein politischer Liberalismus und sein demokratisches Cechentum,
wie sie sich in der schwülen Atmosphäre der reaktionären
fünfziger Jahre entwickelt hatten, einen herben sozialen Beigeschmack;
auch empfand Nerudas tiefer und grübelnder Geist schmerzvoller
als andere die schwere Stickluft dieser trostlosen Zeit, für die
er die passende Bezeichnung einer Periode, wo man lebendig
begraben wird, geprägt hat.

Rein persönliche Erlebnisse kommen hinzu, um das Gemüt
des jungen Dichters noch düsterer zu stimmen. Neruda, der sich
für die Mittelschulprofessur vorbereitet hatte und schon als Supplent
an einer deutschen Realschule in Prag angestellt war, entsagte
endlich, um die unbeschränkte Freiheit seiner Persönlichkeit zu
wahren, diesen Plänen und entschied sich für die damals ebenso
unsichere wie sozial bedenkliche journalistische Bahn, die ihn
zuerst in die Redaktion eines deutschen Prager Blattes führte,
wo er Lokalberichte schreiben mußte. Seine intimsten Träume,
ein trautes Heim mit einem tief, aber ganz eigentümlich
geliebten Mädchen zu gründen, wurden dann, als ihm sein
journalistischer Beruf keine genügende pekuniäre Grundlage bot,
überhaupt nicht verwirklicht.

Auch war Nerudaein seltsamer Liebhaber. Eine leiden-