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Zeyer ist also ein vollblütiger Romantiker, der aber in die
Zeit der realistischen Kunst, der sozialen Reformen, der
materialistischen Philosophie, des religiösen Indifferentismus verschlagen
wurde. Sein Farbenreichtum, sein Exotismus, seine berauschende
üppigkeit der Bilder verbinden ihn mit den französischen
Romantikern; mit den englischen Präraffaeliten teilt er jedoch seinen
keuschen, menschenscheuen Spiritualismus, seine mystische
Religiosität, seine morbide Gotik - nur so konnten die
Neuromantiker in Böhmen, die dem Realisten und Naturalisten
später folgten, in Zeyer ihren wahlverwandten Vorgänger
erblicken. Für Zeyer ist erst mit seinem Tode 1901 die Ruhmeszeit
gekommen; heute, wo er der modernen Litteratur wieder nichts
mehr zu sagen hat, wird er wenigstens als
Lieblingsschriftsteller gefühlvoller Damen und der schwärmerischen Jugend
gefeiert.

Der Renaissancedichter Ja r 0 s I a v V r chI i c k Y (eigentlich
Emil Frida, geb. 1853) bildet einen ausgesprochenen Gegensatz
zu dem gotischen Spezialisten Zeyer. Wie in einem geistigen
Brennpunkte durchschneiden sich in seinem immensen poetischen Werke
alle Ideen und Lebensformen der modernen Menschheit, wie sie sich
seit der Renaissancezeit im westlichen Europa entwickelt haben.
Mit den Augen der modernen Geschichtsphilosophie betrachtet
Vrchlicky das groIse historische Weltdrama ; als tiefgebildeter
und freisinniger Sohn des 19. Jahrhunderts stellt er sich zum
Mittelalter wie ein begeisterter Humanist, der jedoch die Fühlung
mit seiner Zeit nie verliert, klammert er sich sehnsüchtig und
leidenschaftlich an die erhabene Schönheit und freie Moral der
antiken Welt und während sein grüblerischer Januskopf mit
einem Gesichte rückwärts gewendet ist, blickt das andere, deutend
und hoffend zugleich, der dämmernden Zukunft entgegen.

Vrchlickys Lebenswerk, das mit seinen mehr als hundert
Bänden noch nicht abgeschlossen ist, gleicht dem mystischen
Labyrinth; die äuCserst schwierige und dabei verlockende
Aufgabe, durch systematische Anordnung, planmäCsige Gruppierung,
organische Vergleichung den Faden der Ariadne dem bisher
ganz ratlosen Leser in die Hand zu legen, harrt noch immer der
Kritik und der Litteraturgeschichte , die bisher kaum die
dürftigsten Vorarbeiten dazu erledigt hat. Dabei dürfen zwei
wichtige Umstände nie auCser acht gelassen werden: Vrchlickys