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aller slavischen Stämme erkannt hatte, daß die Cechen ~nter dem
Einflusse der religiösen und politischen Ereignisse hinter dem
Westen kulturell zurückgeblieben seien und daß ihre Bildung von
so mancher großen Strömung der Neuzeit nicht hinlänglich
befruchtet, namentlich aber von der Renaissance, vom Barock, von
der Aufklärung und dem Klassizismus ziemlich wenig berührt
worden sei, da bemächtigte sich der cechischen Intelligenz eine
schier nervöse Hast, nur ja rasch genug "Europa einzuholen",
wie ein mehr zutreffendes als geschmackvolles Schlagwort besagt.
Dieses Streben entfacht Übersetzertätigkeit, bürdet der Kritik
nebst ihrem Richtermetier auch Dolmetscher- und
Propagandadienst auf, hetzt die Dichter bei der Stoffwahl durch fremde
L~nder und fremde Völker, durch entfernte Zeiträume und
Kulturen. Man findet dieses Bestreben sowohl an der Schwelle der
Romantik in Jungmanns Trachten nach der "Klassizität in der
Literatur", als auch zur Zeit der Dämmerung der Romantik in
Nerudas und Haleks Schwärmerei für das Kosmopolitische,
Übernationale, Allmenschliche in der Dichtkunst; um eine
Dichtergeneration später steigerte sich dieses Streben in den dichterischen
und kritischen Heerfahrten Vrchlickys und seiner Freunde aus
der Lumirschule zum Rufe nach einer nur durch künstlerische
Rücksichten bestimmten Poesie, und hierauf abermals an der
Scheide des 19. und 20. Jhs. zur systematischen
künstlerischerziehlichen Arbeit des Kritikers Salda zugunsten einer
europäischen Orientierung der cechischen Literatur - auf wie
fruchtbaren Boden fiel da gerade in Böhmen die deutsche romantische
Lehre "von der progressiven Universalpoesie" und wie üppig ist sie
dank der eigentümlichen kulturellen Situation in Blüte geschossen!

Diese zentrifugalen Tendenzen wurden in der cechischen
Literatur nichts weniger als einwandfreI und kampflos aufgenommen,
sondern trafen regelmäßig auf die selbsterhaltende, konservative
und hemmende Zentripetaltendenz, welche die Notwendigkeit
betonte, an der Tradition festzuhalten, Ideen und Vorwürfe aus der
Fülle des Nationallebens heraus zu schöpfen, die von dem
Sprachund Stilvermögen des eigenen Stammes abgeleiteten Formen zu
benützen, es sind dies alles - wie leicht ersichtlich -
Folgerungen des Nationalismus, welche nach der kulturellen und
künstlerischen Seite hin gedanklich weiter verarbeitet, sowohl von
Utilitaritätsrücksichten als auch von politischer Zuspitzung gereinigt.
Das Ringen dieser beiden Richtungen erfüllt das cechische
Schrifttum mit dramatischer Lebhaftigkeit, besonders insofern als dessen