- 357 Sensibilität, die auch auf die feinsten Impulse der den Dichter angehenden Wirklichkeit reagiert und sie in den zartesten Abtönungen und verborgensten Halbtönen nachklingen läßt; halb aber ist Vrchlicky ein komplizierter, sehr gelehrter, an umfassenden Reisen und an allen Litteraturen des westlichen Europa gebildeter Geist, zu dem die Geschichte mit tausend Zungen spricht, und der sich von den verschiedensten Kulturen zu dichterischem Schaffen anregen läßt, wobei nicht nur fremde Stoffe, sondern auch fremde Kunstformen in sein Werk übergehen. In der Zeit, als das cechische Schrifttum fast ausschließlich von der deutschen Litteratur befruchtet ward, trat Vrchlicky als Vermittler der romanischen, vorzugsweise französischer und italienischer Dichtung a1,lf. Mit den modernen Franzosen hat er seine Übersetzertätigkeit eröffnet; eine große, vielseitige Anthologie der französischen Lyrik aus dem 19. Jahrhundert (1877), der dann einige Nachträge folgten, zeigte ihn bereits auf der Höhe seiner Übersetzungskunst, und hier entwirft Vrchlicky schon sein poetisches Programm: der Gipfel der französischen Poesie ist für ihn Victor Hugo, dem selbst die entschieden echteren Lyriker Musset und Vigny weichen müssen; außer ihm kommt noch Theophile Gautier , einige Parnassiens in Betracht, hauptsächlich Theodore Banville, Sully Prudhomme, Leconte de Lisle, viel weniger schon die beiden Begründer der neuen Lyrik in Frankreich, Charles Baudelaire und Paul Verlaine. Von Vidor Hugo, den V rchlicky in drei vorzüglich informierenden Anthologien dem cechischen Publikum vorgeführt hat, hat er am meisten empfangen: die geniale Rhetorik, die poetische Polychromie, die grandios pompöse Rhythmik, den großartigen Gedanken einer kolossalen Epopöe der Menschheit in fragmentarischer, halb lyrisch, halb epischer Ausführung, die seltsame Verbindung der kosmischen Betrachtung mit der zartesten Liebesund Familienlyrik ; doch auch die überschwängliche, oft bombastische Sprache, die keine Ökonomie kennen will, das unphilosophische Spiel mit verschiedenen Ideen und Systemen, den fortschrittlichen Optimismus und eklektischen Idealismus, welcher auch bösem Truismus nicht ausweicht. Von Gautier und Banville hat Vrchlicky die gewagteste Formkunst und das selbstzufriedene Künstlertum, von Sully Prudhomme die philosophisch-