- 407 Dostojevskij sympathisch sein, und der unduldsame Eifer des einseitigen Moralisten konnte sich mit Renan, dessen Geist aus Frankreich in die moderne cechische Litteratur vielfach übergegangen ist, keineswegs vertragen. Eine kritische Revision des nationalen Lebens war für Masaryk mehr als ein lautes Programmwort ; es war für ihn vielmehr ein Teil seiner Lebensaufgabe. In der böhmischen Reformation, vorzugsweise in der Brüdergemeinde, fand seine ausgesprochen protestantische Denkart den eigentlichen Sinn der cechischen Geschichte; ja, auch in der Wiedergeburt des cechischen Volkes, die doch eine fast ausschließlich nationalromantische Bewegung war, erblickte er philosophisch-religiöse Ideen der Reformation, an die er dann die Gegenwart unmittelbar anknüpfen wollte. Diese zuweilen ganz wunderliche Hypothesenkonstruktion stieß auf allgemeinen Widerspruch der Fachgelehrten; Masaryks anregungsreiche , wenauch durchaus einseitige Bücher über dieses Thema: ~ Ceska otazka« (>Die cechische Frage«, 1895) und »Karel Havlieek« (1896), förderten jedoch ungemein das Studium der cechischen Wiedergeburt. In der letzten Zeit wird Masaryk, der um sich eine selbständige politische Partei, die sogenannten :» Realisten«, versammelt hat, von der politischen Agitation und dem Journalismus zu sehr in Anspruch genommen; er erstarrt immer mehr und verliert auch allmählich jede Fühlung mit dem wissenschaftlichen und litterarischen Leben; auch seine eminent kritische Begabung und sein vorzüglicher sozialpsychologischer Scharfsinscheiterten an der Klippe eines engherzigen Moralismus und eines gewaltsamen Freidenkertums. So ist T. G. Masaryk die führende Rolle in der cechischen Philosophie nach Josef Durdik zugefallen, doch hat er sie ganz anders als dieser ehrwürdige Herbartianer aufgefaßt. Da er ein unruhiger Problematiker ist, pflegt er die philosophischen Ideen eher seinen Jüngern und der Öffentlichkeit in anregender Weise aufzuwerfen als dieselben methodisch und systematisch zu Ende zu denken; geraden Linien weicht er in seinen Lösungen der Probleme aus, vielmehr ist er immer bestrebt, alle Fragen, die ihn leidenschaftlich beschäftigen, allseitig zu beleuchten und kritisch zu untersuchen. Auf diese Weise hat er das philosophische Leben in Böhmen in Gärung gebracht, ohne feste Prinzipien aufgestellt zu haben: in der Ethik, in der Soziologie und in der